Liebe Gemeinde,

Ein Mensch ging von Jerusalem hinab nach Jericho. Da fiel er unter die Räuber; die schlugen ihn brutal zusammen und ließen ihn halb tot liegen. In der einsamen Gegend  gingen  verschiedene Menschen an ihm vorbei, aber keiner kümmerte sich. Da kam ein Samariter. Der hatte Mut und Mitgefühl. Er ging zu ihm hin, und verband ihn und brachte auf seinem Esel ihn in eine Herberge und pflegte ihn. Und am nächsten Tag gab er dem Wirt genügend Geld und sagte: Pflege ihn; und wenn du mehr ausgibst, bezahle ich es dir, wenn ich wiederkomme.

Liebe Gemeinde, diese Geschichte vom barmherzigen Samariter hat die christliche Kultur und vielleicht sogar das Abendland mitgeprägt. Wenn wir einen Menschen in Not sehen, dann  denken wir an sie und hören innerlich Jesus sagen: Geh hin und tu desgleichen!

Einmal stand ein Gesetzeslehrer auf und fragte Jesus: Meister, was muss ich tun, dass ich das ewige Leben ererbe? Da antwortete Jesus: Was steht im Gesetz geschrieben?

Da sagte der Gesetzeslehrer: »Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben von ganzem Herzen, von ganzer Seele und mit all deiner Kraft und deinem ganzen Gemüt, und deinen Nächsten wie dich selbst« (5. Mose 6,5; 3. Mose 19,18).

Darauf sagte Jesus: Du hast recht geantwortet; tu das, so wirst du leben.

Da fragte der Gesetzeslehrer aber noch einmal: Wer ist denn mein Nächster?

Und daraufhin erzählt Jesus die Geschichte und er nimmt als Beispiel für den Menschen, der Hilfe leistet, ausgerechnet einen Samariter, einen Angehörigen des von Jesus‘ Volk, den Juden, verachteten und als minderwertig angesehenen Nachbarvolks. Und dann fragt er am Ende noch einmal den Gesetzeslehrer: Wer von diesen, die vorbeigingen, meinst du, ist der Nächste geworden dem, der unter die Räuber gefallen war?

Der antwortet: Der die Barmherzigkeit an ihm tat.

Es geht in der Geschichte also eigentlich nicht darum, ob Barmherzigkeit gut ist, sondern darum, wer auf sie Anspruch hat. Dazu gab es in der Zeit Jesu eine kontroverse Diskussion. Und die herrschende Lehrmeinung war: Barmherzigkeit ist reserviert für die Mitglieder der eigenen Volksgruppe. Wer sich an die Regeln des religiösen Gesetzes hält, der ist es wert, dass man ihm hilft. Aber wenn man jemanden hilft, der nicht dazugehört und sich nicht an diese Regeln hält, dann macht man sich sogar unrein – dann steckt an sich sozusagen bei seiner oder ihrer Minderwertigkeit an.

Auf diese Diskussion reagiert Jesus, indem er die Rollen umkehrt. Er fragt nicht, darfst du einem helfen, die eigentlich nicht dazugehört? Sondern er fragt: Was machst du eigentlich, wenn dich einer rettet, der nicht dazugehört, vielleicht sogar so ein Samariter? Sagst Du dann immer noch, der ist es nicht wert?

Und er stellt damit die menschliche Vorstellung auf den Kopf, es gäbe vorgegebene Einheiten und Gruppen, die zusammengehören und füreinander sorgen müssen. Sondern es kommt darauf an, wer sich dem Mitmenschen zum Nächsten macht.

II

Das war jetzt ein bisschen kompliziert. Der frühere Generalsekretär des Ökumenischen Rates der Kirchen, der Norweger Olaf Fykse Tveit, hat die Aussage dieser Geschichte aber einmal viel kürzer in einem Satz auf eine wunderbare Formel gebracht. In der Diskussion darum, was die unterschiedlichen christlichen Kirchen brauchen, um die volle Einheit herzustellen, wird viel vom Abendmahl gesprochen, vom Verständnis Marias und der Heiligen oder vom Papstamt. Aber Tveit sagte einfach, im Sinne der Geschichte vom barmherzigen Samariter: To be one, ist to stand up for one another! Eins sein, das heißt, füreinander aufstehen, füreinander einstehen!

Es hilft ja nichts: Die Geschichte vom barmherzigen Samariter hat eine anti-nationalistische Botschaft. Und es ist außerdem kein edler Römer oder Grieche, der dem unter die Räuber gefallenen jüdischen Menschen hilft. Der Nationalismus wird nicht in der Vergeschwisterung mit hoch angesehenen Völkern überwunden, mit kultivierten Franzosen., mit mächtigen Amerikanern. Sondern das verwandte, aber schwächere und als minderwertig angesehene Brudervolk der Samariter wird von Jesus zum Durchbrechen der nationalen Grenzen bemüht: Gewissermaßen ein Ossi oder ein türkisch Deutscher oder eine Russlanddeutsche ist es, der oder die da hilft.

III

Ein sein, heißt füreinander aufstehen, füreinander einstehen. Müssen wir also die Feier zur Deutschen Einheit aus christlicher Sicht absagen?

Ich hoffe, ich habe niemanden allzusehr erschreckt. Nein, müssen wir nicht. Wir wären nicht in der Kirche, wenn wir nicht doch noch eine freundliche Botschaft hätten. Denn die nationale Bewegung war ja in ihren Ursprüngen im 19. Jahrhundert eine integrierende: Preußen und Sachsen, Bayern und Franken, Rheinländer und Westfalen wollten sich nicht länger voneinander abgrenzen, sondern die Kleinstaaterei überwinden. Und innerhalb dieses größeren Zusammenhaltes sollten politisch Regeln der Gleichheit und sozial Regeln der Fürsorge gelten. Eins sein, sollte genau das heißen: Füreinander einstehen! Und bei den progressiven Vertretern des Nationalgedankens sollten auch die Minderheiten wie die Juden oder die Sorben dazugehören.

Und das Festhalten an der deutschen Einheit in den Zeiten der erneuten Teilung nach dem Zweiten Weltkrieg war auch immer von diesem Gedanken erfüllt. Nach der furchtbaren deutschen Schuld mit dem Völkermord an den Juden und den Völkern Mittel- und Osteuropa gab es die im Westen, die sagten, wir dürfen die Menschen in der sowjetischen Einflusssphäre nicht die

Folgen alleine tragen lassen. Sondern wir stehen für einander auf, wir stehen füreinander ein: Wir vergessen einander nicht!

Wir stehen füreinander ein - wo wir können, helfen wir materiell! Davon haben viele Familien und Kirchengemeinden gelebt.

Und wir stehen füreinander auf! Wir treten auch für die politischen Rechte der Menschen und für die Rechte der politisch Verfolgten ein – nicht besserwisserisch und selbstgerecht, sondern mit dem Versuch, gemeinsame Rechtsnormen zu entwickeln, auf die sich alle berufen können, zum Beispiel durch die Schlussakte der Gründung der KSZE, Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa 1975 von Helsinki. Da war die deutsche Einheit schon vor 1990 lebendig.

Eins sein, heißt füreinander aufstehen, füreinander einstehen! Bei aller berechtigten Kritik, die heute an vielen politischen

Details der deutschen Vereinigung 1989/90 geübt wird - darin war sie groß und bewegend: Dass sie vom Willen geprägt war, mit großem Einsatz nicht einheitliche Lebensverhältnisse, wer will schon bayrische Lederhosen anziehen, aber gleichwertige Lebensverhältnisse für alle herzustellen! Dafür haben Menschen sich mit großer Kraft auf allen Seiten eingesetzt. Dafür haben zig Millionen auf allen Seiten über Jahrzehnte einen Solidarbeitrag gezahlt, der auf viele Milliarden anwuchs , wie wäre es, den nicht als schlimme Last anzusehen, sondern als großes Zeichen von Geschwisterlichkeit aller, die in der Lage waren, ihn zu zahlen?

Und wie wäre es, diese Anstrengung angesichts der heutigen Herausforderungen weiterzuführen?

IV

Eins sein, heißt füreinander aufstehen, für einander einstehen. Ist die Deutsche Einheit nun vollendet? Fast möchte ich sagen, was für eine dumme Frage. Dass kann man doch nicht erwarten. Um fünf Jahre Krieg mit seiner Zerstörung aufzuarbeiten, braucht man hundert Jahre! Und um über vierzig Jahre Teilung aufzuarbeiten, braucht man bestimmt wieder  mindestens vierzig Jahre. Aber dass von dreißig Jahren staatlicher Einheit über die Hälfte unter der Kanzlerschaft einer Ostdeutschen gewesen sind, das ist im historischen Vergleich sensationell. Die amerikanischen Südstaaten mussten nach dem Bürgerkrieg 111 Jahre warten, bis sie zum ersten Mal wieder einen Präsidenten stellen konnten.

Und auch sehr viel anderes kann sich sehen lassen.

Eins sein, heißt füreinander aufstehen, füreinander einstehen. Ist die Deutsche Einheit nun vollendet? Die Deutsche Einheit wird nie vollendet sein! Denn jede Generation wird vor der Aufgabe stehen, in ihrer Zeit ein Gemeinwesen zu bauen, in dem die Menschen füreinander aufstehen und einstehen.

Und die Geschichte vom barmherzigen Samariter lehrt uns, dass dann nicht die dazugehören werden, die auf eine bestimmte Herkunft oder Ahnengalerie verweisen. Sondern die werden dazugehören, die sich die Nachbarn als Nächste ansehen. Die sich ohne Vorurteile mit Einsatz und Mitgefühl einbringen, egal ob  ihre Eltern aus Brandenburg, dem Saarland, Polen, Russland, der Türkei, Syrien, Afghanistan oder Somalia kommen, und egal ob ihr Glaube Religion katholisch, evangelisch, orthodox, jüdisch, islamisch oder unreligiös ist.

Und natürlich gehört zur Vollendung dieser Einheit im Sinne Jesu, dass sie kein füreinander einstehen gegen Dritte ist. Sondern sie soll ein Baustein in der größeren Einheit Europas und der Einheit der Menschheit sein! Dabei sollen die Menschen in den einzelnen Gemeinwesen die Menschen füreinander aufstehen und füreinander einstehen. Und über die Grenzen hinweg sollen die Gemeinwesen füreinander aufstehen und für einander einstehen, wenn sie einander brauchen und wenn eines in Not gerät.

Ich bin übrigens ganz persönlich sehr dankbar für die deutsche Vereinigung – ohne sie wäre mein Leben ganz anders verlaufen, und ohne sie wäre ich heute nicht hier. Sie hat mich innerlich wachsen lassen und hoffentlich weiter und stärker gemacht.

Eins sein, heißt füreinander aufstehen, füreinander einstehen – Gott sei Dank für jeden Moment, in dem das in den letzten dreißig Jahren und auch in den Jahrzehnten und Jahrhunderten davor geschehen ist. Und möge Gott unsere Augen und Herzen öffnen, dass wir immer neu füreinander und für alle aufstehen und einstehen, und dass unsere Einheit in unserem Land und in der Menschheit so immer weiterwächst. Amen.

Frank Schürer-Behrmann Superintendent

Kirchenkreis Oderland-Spree